Wer oder was handelt?
Die Handlungsfähigkeit von Subjekten zwischen Strukturen und sozialer Praxis.
Problemstellungen und Herausforderungen der Hermeneutischen Wissenssoziologie

Arbeitstagung der Sektion Wissenssoziologie der DGS am 15. und 16. Juni 2012 an der Hochschule Fulda, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Organisation: Angelika Poferl und Norbert Schröer


Die Hermeneutische Wissenssoziologie stellt einen bedeutenden theoretischen, methodologischen und methodischen Ansatz der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse dar. Ihre – seit den späten 1980er und 1990er Jahren – ausformulierten Beiträge haben die sozialwissenschaftliche Grundlagendiskussion und insbesondere auch die neuere (qualitativ und rekonstruktiv verfahrende) empirische Sozialforschung bereichert
(vgl. Hitzler/Reichertz/Schröer 1999; Knoblauch 1995; Hitzler/Honer 1997; Eberle 2000; grundlegend vor allem Soeffner 2004). Die Aktualität und Innovativität dieses Ansatzes lässt sich an drei zentralen Frage- und Erkenntnisinteressen festmachen: Bearbeitet und reflektiert wird

  1. das klassische sozialwissenschaftliche Kernanliegen einer Untersuchung problemlösenden sozialen Handelns in seinen Strukturbedingungen,

  2. die – dazu stets querliegende – Frage nach der ‚Eigensinnigkeit‘ und relativen Freiheit von Akteuren in der handlungspraktischen Interpretation und Bewältigung sozialer Wirklichkeit sowie

  3. schließlich die Frage der Transformation von Gesellschaft, die aus dem Zusammenspiel beider Komponenten und den daraus sich ergebenden Überzeugungen und Praktiken, d.h. den kulturell geprägten und Kultur produzierenden Deutungs- und Handlungsmustern resultiert.


Die eng an Berger/Luckmann (1980 [1966]) und Soeffner (2004) anknüpfende „Großfragestellung“ der Hermeneutischen Wissenssoziologie untersucht, „wie Handlungssubjekte, hineingestellt und sozialisiert in historisch und sozial entwickelte Routinen und Deutungen des jeweiligen Handlungsfeldes, diese einerseits
vorfinden und sich aneignen (müssen), andererseits diese immer wieder neu ausdeuten und damit auch ‚eigen-willig‘ erfinden (müssen). Die (nach den Relevanzen des Handlungssubjekts konstituierten) Neuauslegungen des gesellschaftlich vorausgelegten Wissens werden ihrerseits (ebenfalls als Wissen) in das gesellschaftliche Handlungsfeld wieder eingespeist“ (Reichertz 2000, S. 519; Hervorh. im Orig.). Als strukturanalytische Handlungstheorie setzt die Hermeneutische Wissenssoziologie damit an einem theoretisch und empirisch brisanten Spannungsverhältnis an: Sie ist zum einen an der Ausbildung derjenigen gesellschaftlichen Wissensbestände interessiert (Wissen im weitesten Sinne als Kenntnis von ‚Welt‘ und ‚Wirklichkeit‘), die den sozialen Akteuren in der Wahrnehmung und Erfüllung von Aufgaben und Anforderungen in unterschiedlichsten Handlungsfeldern (von der Ebene des professionellen und Expertenhandelns bis hin zum Alltagsleben) zur Verfügung stehen und deren Handeln in je spezifischer Weise orientieren. Zum anderen wird die aktive Bezugnahme sozialer Akteure auf gesellschaftlich bereitgestellte Wissensbestände und Orientierungsmuster, die Auslegung und Modifikation derselben sowie der Entwurf von Handlungszielen und Handlungsabläufen aus der Sicht von Akteuren analysiert. Dies bedeutet, dass soziale Akteure weder als beliebig und unbestimmt agierend noch als gleichsam automatisch gesteuert betrachtet werden. Sie bewegen sich im Rahmen von verfüg-baren und möglichen Handlungsoptionen, beziehen diesen Optionen gegenüber Stellung und nehmen so (mehr oder weniger modifizierende) Situationsdefinitionen vor, über die sie in die jeweils gegebenen kulturellen, sozialen und materialen Kontexte hineinwirken. Sozialwissenschaftliche Ansätze gehen typischerweise von der gesellschaftlichen Prägung individuellen und kollektiven Denkens, Handelns und Fühlens durch historisch entwickelte und institutionell stabilisierte, übergeordnete Strukturen aus. Dem gegenüber stehen Ansätze, die die Handlungsfähigkeit und Handlungsmächtigkeit von sozialen Akteuren – verstanden als mit Wissen, Kompetenz und Reflexionsvermögen begabte Subjekte – betonen. Fachgeschichtlich haben solche subjekt- und handlungsorientierten Ansätze sowohl im US-amerikanischen als auch im europäischen Raum im Zuge der Durchsetzung des „interpretativen Paradigma“ seit den 1960er Jahren an Bedeutung gewonnen (vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1981; aktuell Keller 2009). Die Hermeneutische Wissenssoziologie stellt eine Fortführung und Weiterentwicklung innerhalb dieses Paradigmas dar. Sie ist zugleich jedoch ein in führenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorietraditionen gründender Versuch, die unfruchtbare – und seit langem kritisierte – Gegenüberstellung von ‚Struktur‘ und ‚Handeln‘, ;Struktur‘ und ,Kultur‘ zu überwinden sowie die wechselseitige Durchdringung beider Ebenen in ihrer je konkreten Auswirkung auf soziale Praxis zu erfassen und empirisch nachzuvollziehen.

Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen, aber auch angesichts der Ausdifferenzierungen des theoretischen Feldes stellen sich der Hermeneutischen Wissenssoziologie gleichwohl neue Probleme und Herausforderungen, die im Rahmen der Arbeitstagung zu behandeln sind und die insbesondere die konstitutive Vorstellung eines „Handlungssubjektes“ berühren; zu verweisen ist hierbei nicht zuletzt auf die vielfach vorgetragene Subjektkritik: Überlegungen, wie sie etwa im Rahmen der sogenannten poststrukturalistischen Soziologie (vgl. Stäheli 2000), aber auch einigen praxissoziologischen Ansätzen (Bourdieu 1987) zu finden sind, gehen von der Vorstellung einer Dominanz und Eigenmächtigkeit gesellschaftlicher Strukturen und Praxismechanismen aus, die Subjektivität (Autonomie, Handlungsfreiheit etc.) letztendlich als bloßes Derivat symbolisch-materieller Verhältnisse begreift. Systemtheoretische Ansätze sehen im Subjekt seit jeher nicht mehr als eine alteuropäische, für das Selbstverständnis der sich entwickelnden Moderne funktionale Semantik (Luhmann 1997). Diskurstheorien und -analysen betonen die Macht der sprachlichen Formierung jeglicher Selbst- und Weltverhältnisse und stellen sich – je nach Ausrichtung – als wissenssoziologisch unberührt oder aber synthetisierend-anschlussfähig (vgl. Keller 2005) dar. Die Aktor-Netzwerk-Theorie (Latour 2007) löst Subjektivität in Mensch-Artefakt-Verknüpfungen auf. Die Theorie reflexiver Modernisierung operiert mit der Formel eines „Quasi-Subjekts“ (vgl. Poferl 2009). Ein in sich äußerst heterogenes und schillerndes Spektrum von Theorien zu Subjektkulturen, Subjekttechnologien und subjektformierenden Praktiken stellt die Frage nach der (historischen, sozialen, situativen etc.) Herstellung von Subjekten selbst ins Zentrum (vgl. Reckwitz 2008). Neurophysiologische Ansätze degradieren Subjektivität zu einer Illusion (Markowitsch 2006). Erweist sich die oben zitierte Großfragestellung und die Idee handlungs- und entscheidungsfähiger Subjekte als überholt oder gar naiv? Oder führt nicht umgekehrt gerade die Verabschiedung ‚des Subjektes‘ zu einer weltfremden, die Freiheitsgrade sozialen Handelns, die Kreativität, Resonanzfähigkeit und Verantwortlichkeit sozialer Akteure unterschlagenden Abstraktion?

Die Hermeneutische Wissenssoziologie ermöglicht derzeit keine klare Stellungnahme. Unterschiede darüber, wie das Verhältnis der vorstrukturierten sozialen Wirklichkeit zum handelnden und die soziale Wirklichkeit so tragenden Subjekt gefasst ist, werden zunehmend erkennbar. Vor allem die Sicht auf das handelnde Subjekt ist heterogen(er geworden): Eher interaktionistische und existenziale Ansätze stehen neben eher strukturalistischen Fassungen. Einmal wird das Subjekt als souverän zentrierter, ein anderes Mal als insouverän dezentrierter oder gar als marginalisierter Akteur gefasst. Damit ist dann nicht mehr so ohne weiteres ersichtlich, welches Grundlagenverständnis zu Fragen der Konstitution von Wissen, Handeln und Subjektivität an die Analyse mikro- und makrosozialer Phänomene herangetragen werden kann und werden sollte. Auf einer theoretisch und methodisch
allgemeinen Ebene wäre – material oder rein analytisch – zu diskutieren:
  • Was z.B. bedeutet Subjektivität für ein wissenssoziologisch gehaltvolles Konzept von ‚Erfahrung‘?

  • Woran macht sich die ‚Eigen-Sinnigkeit‘ der Deutungs- und Handlungsweisen sozialer Akteure, das Element des Nicht-Standardisierten, fest?

  • Wie verhält sich Subjektivität zu ‚Sozialität‘?

  • Welcher spezifische Erkenntnisgewinn ist mit dem Bezug auf Subjektivität verbunden, welcher analytische Mehrwert leitet sich daraus ab?


Thematisch spezifischer wäre zu klären, wie sich die Hermeneutische Wissenssoziologie mit Theorie- und Forschungsfragen des Wandels moderner Gesellschaften verbinden lässt; hier stellen sich Fragen wie z.B.:
  • Welche Rolle spielt Subjektivität für die Erfahrung von zivilisatorischen Risiken, von Ungewissheit, Unsicherheit und menschlicher Vulnerabilität?

  • Was bedeutet Subjektivität für die soziale Praxis von Interkulturalität?

  • Welche Formen eines subjektiv sinnhaften ‚Welt‘-Verständnisses bilden sich unter den Vorzeichen gesellschaftlicher Globalisierung und Transnationalisierung heraus?


Das Anliegen der Arbeitstagung ist, eine Verständigung innerhalb der Hermeneutischen Wissenssoziologie anzuregen. Auf der Tagung „Wer oder was handelt? Die Handlungsfähigkeit von Subjekten zwischen Strukturen und sozialer Praxis“ sollen demnach die subjekttheoretischen Grundlagen der Hermeneutischen Wissenssoziologie und die Relevanz dieser Grundlagen für eine verstehende Rekonstruktion einer zunehmend global vernetzten sozialen und kulturellen Wirklichkeit erörtert werden.


Literatur:

Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.) (1981): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit (Band 1 und 2). Opladen. Westdeutscher Verlag. [1973].
Berger, Peter/ Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer [1966].
Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Eberle, Thomas S. (2000): Lebensweltanalyse und Handlungstheorie. Beiträge zur Verstehenden Soziologie. Konstanz: UVK
Hitzler, Ronald/ Honer, Anne (Hg.) (1997): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung. Opladen: Leske + Budrich.
Hitzler, Ronald/ Reichertz, Jo/ Schröer, Norbert (Hg.) (1999): Hermeneutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretation. Konstanz. UVK.
Keller, Reiner (2005): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Verlag.
Keller, Reiner (2009): Das interpretative Paradigma. In: Brock. Ditmar et al. (Hg.): Soziologische Paradigmen nach Talcott Parsons. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 17-126.
Knoblauch, Hubert (2005): Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin, New York: de Gruyter
Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Markowitsch, Hans J. (2006): Gene, Meme, „freier Wille“: Persönlichkeit als Produkt von Nervensystem und freier Wille. In: Reichertz, Jo (Hg.): Akteur Gehirn – oder das vermeintliche Ende des handelnden Subjekts. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 31-45.
Poferl, Angelika (2009): Orientierung am Subjekt? Eine konzeptionelle Reflexion zur Theorie und Methodologie reflexiver Modernisierung. In: Weihrich, Margit/ Böhle, Fritz (Hg.): Handeln unter Unsicherheit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 211-242.
Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt. Bielefeld: transcript.
Reichertz, Jo (2000): Objektive Hermeneutik und hermeneutische Wissenssoziologie. In: Flick, Uwe/ Kardorff, Ernst v./ Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, S. 515-524.
Soeffner, Hans-Georg (2004): Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Konstanz: UVK.
Stäheli, Urs (2000): Poststrukturalistische Soziologien. Bielefeld: transcript.